Mit einem bitteren Vorwurf wirft er mir in seiner Nachricht entgegen, dass alles nur in meiner Fantasie geschehen sei. Er spricht von Trugbildern, von falschen Erwartungen, von Enttäuschungen und ungelösten Themen. Doch ist die Fantasie nicht etwas Wunderbares? Wann, frage ich mich, ist sie so in Verruf geraten, dass sie nun als Beleidigung dient? Es fällt mir schwer, obgleich seiner Wut, dies nicht als Kompliment zu betrachten. Ist die Fantasie nicht die Quelle all jener Liebe, die wir empfinden? Teilt sie sich nicht den gleichen Stamm wie der Glaube, die Sorge, die Hoffnung und die Sehnsucht nach dem Selbst? Ist sie nicht der Grund der Dinge, nach denen wir streben, wo wir unsere Träume hüten? Füllt sie nicht den Raum zwischen den Zeiten? Liegt hier nicht die ganze Freude der Freiheit?

Heute schreibe ich Liebesbriefe an meine Fantasie. An jene Kraft, die mich über Kluften rationaler Klarheiten hinwegschweben lässt, über die rauen Klippen der Wirklichkeit hinaus. Die, die mich zu dir auf deine Insel brachte, in die Nacht, in der wir zusammen Geschichten kreierten, in der wir uns erschufen. Durch die verwobenen Fantasien bekam unsere Verbindung ihr Eigenleben. All die Farben, die unsere Körper durchfluteten, die Geschmäcker, die sich in uns zurückspülten, der spürbare Rhythmus. Wo warst Du, wo war ich – Was war real und was fantasiert? Hat nicht gerade die Fantasie die Seele, um jeder Logik zu entkommen? Ist sie nicht erst entfaltet, wenn genau die Grenzen verwischen? Wenn sie dem Glauben, der Hoffnung und der Heilung die Hand reicht? Ich liebe meine Fantasie! Und dich darin auch – immer.
Ist nicht jedes Spiel, das wir spielen, ein Tanz der Fantasie? Glauben wir nicht an eine Insel, eine kleine, geheime Welt, die nur durch unsere Vorstellungskraft erschaffen wird, fernab von richtig und falsch, via con te? Ist die Fantasie nicht der unsichtbare Faden, der all die Gebilde und Konstrukte unseres Lebens zusammenhält, der uns Stabilität schenkt, gerade dann, wenn die Realität ins Wanken gerät? In meiner Fantasie waren wir stärker als jede greifbare Wahrheit. In ihr liegt der Samen für alles Erschaffen, für unsere Anziehung und die Intensität, für die Kraft unserer Erlebnisse. Ist nicht der eigentliche Streit zwischen uns ein Streit über den Verlust unserer Fantasien? Verteidigen wir nicht unser Recht auf unsere eigenen Träume, unsere eigenen Wahrheiten? Sind wir nicht verletzt, weil wir uns nicht von ihnen lösen können?
Die Gefühle, die wir teilten, waren ein Ozean aus Wünschen, Bedürfnissen, vergangenen Narben und Erlebnissen. Was wir in voller Überzeugung spürten, fernab der Konventionen – ein Hoch auf die Fantasie! Deine erotischen inneren Bilder reichten dir, um meinen Körper zu erleben, ohne Berührung, ohne Worte, ohne Raum und Zeit.
Ist es nicht so, dass in der Lücke, in der Kluft zwischen deiner Fantasie und meiner, die Frage nach Schuld und Recht auftaucht? Zwei Spieler, die sich in etwas einmischen, wovon sie keine Ahnung haben? Aus meiner Fantasie fülle ich den Rucksack mit Erinnerungen. Manchmal setze ich mich hin, öffne ihn und schwelge in den Narrativen, genieße die Momente, die mein Leben ausmachen und spüre mich selbst – oder ist das nur meine Fantasie? Wer weiß schon, ob meine Fantasie heute noch dieselbe ist wie damals, als sie in genau jener Situation lebte? Die Farben mögen anders sein, der Geschmack hat sich vielleicht verändert, doch sie bleibt vollkommen und unbegrenzt.
Hier, genau hier, in meiner Fantasie, möchte ich mein Ego zu Hause wissen. Ich hoffe es findet seinen Platz. Ich glaube, dass in der liebenden Umarmung der Fantasie mein Ego frei sein, sich entfalten, träumen und gestalten kann, ohne die Begrenzungen der Realität. Dort kann es sicher sein, geliebt und verstanden werden, in all seiner Komplexität und Tiefe. Vielleicht ist die Fantasie der einzige Ort, an dem das Ego sein kann, wo es seine wahre Form annehmen kann, ungestört und unzensiert. Hier hat es die Freiheit, seine eigene Wahrheit zu erschaffen und alle Facetten seines Wesens auszudrücken. Während das scharfe Bewusstsein das Ego lähmt, gar wegsperren will, ist hier vielleicht der Ort, an dem es am ehrlichsten und verletzlichsten sein darf – und gleichzeitig der sicherste Hafen, um die eigene Tiefe zu erkunden. Ist es nicht eine wunderbare Vorstellung? Das zerbrechliche, ängstliche Ego verpartnert mit der kraftvollen, Fantasie? Ich spüre hier Lebendigkeit!
Ich danke meiner Fantasie. Ich will dem Licht folgen und den Schatten spüren, die Enttäuschung ebenso wie die Hoffnung, die Liebe wie die Trauer. Denn, was ich in meiner Fantasie erschaffe, ist wunderschön und jeden Augenblick wert. Und so fantasiere ich weiter, träume ich weiter von allem, was noch kommen mag, was da war und was es nie geben wird. Nenne mich naiv und leichtgläubig. Ich fantasiere trotzdem und träume weiter, glaube daran, dass es gut ist!
Eine Ode an die Fantasie – an die Brücke zwischen uns, an den Raum, den wir teilten, an die Welten, die wir erschufen. An die Liebe, die in der Vorstellungskraft geboren wird, und an die Freiheit, sie weiterzuleben, auch wenn die Realität sich längst verabschiedet hat.