Eyes on Berlin

Wer nach Erinnerung sucht, der kann vergessen - Wer Bedeutung kennt, handelt danach!
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Ich sitze im Zug nach Berlin. Die Landschaft verschwimmt hinter den Fensterscheiben, und mit ihr meine Gedanken. Tränen fließen über mein Gesicht, unaufhaltsam und ehrlich, während sie die Starre in meinem Inneren aufrütteln, bis etwas sich löst und in Bewegung kommt. Es ist meine Trauer, die abfließt, doch nie verschwindet.

Es ist kein Zufall, dass mich dieser Zug nach Berlin bringt – an einen Ort, der mehr ist als eine Stadt. Für mich ist Berlin Symbol, Narrativ und ein Teil meiner eigenen Geschichte.

Mein Ziel ist eine Fortbildung, aber in Wahrheit reise ich auch in die Vergangenheit. Ich werde meinen Bruder treffen. Familie. Und ich werde in die Erinnerungen an meinen Vater eintauchen. Dort erwarte ich ihn. Wir sind früher oft nach Berlin gereist. Wir, damit meine ich meinen Vater und meine Geschwister. Es waren eher spontane Reisen, die mein Vater mit uns nach Berlin unternahm. „Kinder, wir fahren nach Berlin“, sagte er manchmal an einem Freitagnachmittag oder in den Ferien.

Die Fahrt dauerte oft mehr als sechs Stunden. Anfangs langweilig, aber irgendwann fanden wir Kinder immer etwas zu spielen. Kurz vor Hildesheim fuhren wir an ausgestellten Panzern vorbei. Sie standen erhöht, wie Statuen, und doch spürte ich einen stillen Respekt. Wir hielten an einer Grenzkontrolle, zeigten unsere Pässe. Manchmal tauschten wir auch ein wenig Geld – von Mark in Mark. Für mich war es damals ein Spiel; ich verstand die Tragweite nicht.

In Berlin angekommen, übernachteten wir bei einem Freund meines Vaters. Eine gastfreundliche Familie, deren Kinder frecher waren als wir, deren Straßen wilder und lebendiger wirkten. Ich war sieben Jahre alt und mochte diesen Rhythmus sehr. Wir gingen ins Dinosauriermuseum und in den Zoo. Es gab so vieles zu entdecken und zu sehen. Abends saßen wir, die Gesichter bunt geschminkt, beim Abendbrot und hörten Geschichten über das Weltall.

In jener Nacht, als die Mauer fiel, fuhren wir wieder spontan nach Berlin. Unser kleiner weißer Fiesta, mit gerade mal 45 PS, wurde in dieser Nacht zum Helden. Wir fuhren direkt dorthin, wo Geschichte geschah.

Ich erinnere mich an Eindrücke, Emotionen und Bewegungen. Menschen rannten an uns vorbei, baten meinen Vater Geld zu wechseln. Obwohl er angehalten war, dies nicht zu tun, wechselte er.

„60:40, 70:30“, riefen die Menschen in ihrer Eile.

Ich verstand es nicht. Heute weiß ich, Menschen rannten, um einen Nauanfang. Sie tauschten ihre Vergangenheit, ihr Geld, ihre Gewohnheiten, um sich von dem zu lösen, was war. Dorthin, wo wir herkamen.

Wir sammelten Mauerstücke ein, die wir abgeklopft hatten. Es war eine kalte Nacht, in der Menschen uns Marken und Abzeichen verkauften, die für sie gerade jeden Status verloren hatten.

Mein Vater war ruhig, sein Geld, eine stille Geste der Unterstützung. Ich erinnere mich an die Kraft, die in seinen Handlungen lag, an die Stille, in der er Grenzen nicht nur als Hindernis sah, sondern als etwas, das es zu überwinden galt. Mein Vater, war ohne die Last der deutschen Teilung in seinem Blut, hat mir liebevoll und verständlich gezeigt, was es heißt, über Grenzen hinwegzusehen, liebevoll neugierig zu sein.

Berlin war für ihn kein Ort der Schuld, kein Begrenzung von Ost oder West. Es war ein Ort der Offenheit, der Möglichkeit, der Neugier. Er machte aus dieser Stadt ein Kapitel in einem Buch, das wir gemeinsam aufschlugen. Der Stempel in unseren Pässen war lediglich Zeuge, aber nicht unser Erlebnis. Mit meinem Vater erlebte ich die freudige Spannung, was hinter der nächsten Grenze auf uns wartete. Die Freude an gemeinsamen Wachsen stärker zu spüren, als das Hemmnis hinter dem vermeintlichen Wissen über die Anderen.

Manchmal frage ich mich “Was bleibt?” Manchmal spüre ich die Angst, nicht alles festhalten zu können, was mir geschenkt wurde; im Alltag die Wertschätzung zu verlieren. Dann schaue ich durch die Augen meines Vaters auf Berlin.

Ich bin kein Kind des Ostens oder Westens. Ich bin ein Kind der Wiedervereinigung, geformt von der stillen Stärke meines Vaters, der mich lehrte, wie man Mauern überwindet. Berlin ist für mich ein lebendiges Symbol dieser Kraft, ein Ort, an dem ich die wortlose Tiefe von Verbindung spüre.

Als Kind stand ich in Museen, die vom Schmerz, der Innovationskraft und den Opfern jener Zeit erzählten. Ich durfte alles fragen, alles sehen. Heute aber scheinen viele dieser Geschichten hinter einem Schleier verborgen. Aus individuellen Schicksalen sind universelle Narrative geworden. Bilder und Medien überdecken das Rohe, das ich spüren konnte.

Jeder Satz in der Weltgeschichte ist zugleich ein Teil meiner eigenen Geschichte.

Auf meinem Weg nach Berlin fließen meine Tränen als Schmerz meines Verlusts, als Fluß meiner Wurzeln und als unaufhörliche Kraft der Augen meines Vaters, seiner Perspektive auf Berlin.

Wer nach Erinnerung sucht, der kann vergessen – Wer Bedeutung kennt, handelt danach!

Über das Erleben aus einer schuldlosen Perspektive, einer Offenheit und Ruhe für das Neue, dem Verständnis der eigenen Rolle in etwas Größerem und der Unterstützung für mehr als nur sich selbst, darüber erzähle ich in Eyes on Berlin.

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