Im Strom der Bewegung – wenn Dynamik das Selbsterlebnis verdrängt
„Don’t mistake dynamics for direction“ – dieser Satz, einst vielleicht als pragmatische Warnung gedacht, ist zu einem Brennglas geworden. Er legt offen, was uns als Gesellschaft zunehmend entgleitet: Orientierung. Wir erleben uns in permanenter Bewegung, durchlaufen Zyklen aus Aktion, Reaktion, Anpassung. Die Welt um uns vibriert, pulsiert, fordert – und wir folgen. Doch die Richtung? Die bleibt oft diffus. Was dabei schwindet, ist nicht nur ein Gefühl für Ziel und Sinn, sondern auch das echte Selbsterlebnis.
Denn der Mensch braucht nicht nur Dynamik, sondern auch Integration. Und Integration geschieht nicht durch Geschwindigkeit, sondern durch Resonanz. In der Cross Art & Body Work – einem Ansatz, der Körper, Kreativität und Kognition verbindet – zeigt sich dieser Zusammenhang besonders deutlich. Hier ist Bewegung nicht bloß Aktivität, sondern ein Medium der Wahrnehmung. Doch auch hier gilt: Wenn Bewegung zur Selbstvermeidung wird, wenn sie nicht mehr in Kontakt mit einem inneren Impuls steht, verliert sie ihre Tiefe. Der Körper wird zur Funktionseinheit, der Ausdruck zur Geste, das kreative Tun zur bloßen Performance.
Selbsterlebnis braucht Anbindung
Im Zentrum dessen, was wir „Selbsterlebnis“ nennen, steht das spürbare Gefühl: Ich bin beteiligt. Ich bin verbunden. Ich wirke. Dieses Erleben entsteht nicht automatisch durch Tun. Im Gegenteil: In einem Zustand reiner Dynamik, der nicht durch Richtung geframed ist, verliert sich genau das. Der Mensch agiert, aber erlebt sich dabei nicht. Er funktioniert, aber erkennt sich kaum wieder. Er handelt – doch ohne Bezug zu sich selbst, zu anderen, zur Welt.
Gerade Kinder und Jugendliche sind hier sehr vulnerabel. Wenn ein Kind dir nach neun Stunden einen Zusammenhang erklären kann, aber nicht den eigenen Bezug dazu findet, ist das kein Lernfortschritt – es ist Ausdruck eines kulturellen Verlustes: die Trennung von Wissen und Erleben, von Lernen und Wirken.
Dass nichts so sehr zum Leben gehört, wie das eigene Erleben, mit allem drum und dran, zeigt die ständige Kanalisierung und Verbreitung der Medien, die eben vorgibt, das Erleben selbst teilbar (und kontrollierbar) zu machen. Durch Bilder, Posts, Reels und andere Spuren.
Ein Blick in die biochemischen und neuronalen Prozesse lässt uns hier tief blicken. Während bestimmte Regionen bei dem Betrachten und Teilen unserer “Erlebnisse” ebenso aktiv sind wie beim tatsächlichen real life Erleben, lässt sich der Betrug in dem langsfristigen Prozess aufdecken. ADHS, Ticks, Depressionen und mentale Schwere zeigt sich oft als der ungestillte Hunger der Selbstwirksamkeit.
Um es kurz zu sagen: Wer sich für ein gelungenes Foto in Szene setzt und dadurch sein Erleben festhalten möchte, erlebt eben das “in-Szene-setzen”, das “Festahlten”, aber nicht sich – denn das Selbsterlebnis hat keine Planungslücke.
Die Illusion der Produktivität
Unsere Zeit liebt Bewegung. Wer viel macht, gilt als engagiert. Wer sich ausruht, als schwach. Auch in Bildungsinstitutionen wird das sichtbar: Projektlernen, Output-Denken, ständige Aktivierung. Doch was geschieht, wenn Kinder, Jugendliche – und auch Erwachsene – lernen, sich durch Aktivität zu rechtfertigen, anstatt durch Verbindung?
Die Folge ist nicht nur Erschöpfung, sondern Entfremdung. Denn inmitten all dieser Bewegung geht etwas Zentrales verloren: Selbstwirksamkeit. Und damit auch die Grundlage für Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Wer sich nicht mehr als wirksam erlebt, verliert das Gefühl, Teil von etwas zu sein.
Der Modus des fight-or-flight – ursprünglich ein evolutionäres Überlebensprogramm – wird im modernen Alltag zum Dauerzustand. In diesem Zustand bleibt keine Energie für Richtung, kein Raum für Reflexion, keine Zeit für Integration. Man agiert, um zu überleben. Und das fühlt sich irgendwann an wie Leben selbst.
Dynamik ohne Richtung – auch im Körper
In Cross Art & Body Work zeigt sich diese Problematik auf somatischer Ebene. Körperarbeit ist nicht automatisch heilend. Ausdruck ist nicht automatisch wahrhaftig. Auch der Körper kann kompensieren, vermeiden, performen. Wenn jemand sich durch Bewegung stabilisiert, ohne sich zu verankern, wird Bewegung zum Schutz – nicht zur Öffnung. Die dauerhafte stille Entzündung wird zum Symptom des unterdrückten Selbsterlebnisses. Das gilt auch für kreative Prozesse: Wer malt, tanzt, schreibt, ohne sich innerlich zu beziehen, schafft vielleicht Bilder – aber keine Spuren.
Und genau darum geht es: Spuren hinterlassen. Im eigenen Erleben. In der eigenen Geschichte. Im Moment. Eine Bewegung, ein Satz, ein Blick – all das kann eine Spur hinterlassen, wenn es aus einem echten Impuls heraus geschieht. Wenn es verbunden ist mit dem, was ich bin, was ich fühle, was ich will, ohne dass ich darüber nachdenken muss.
Doch dafür braucht es Richtung. Nicht im Sinne eines Plans, sondern im Sinne einer inneren Ausrichtung. Ein Spüren, ein Wissen, ein Ja. Und dieses Ja ist selten laut. Es entsteht in der Stille nach der Bewegung, im Nachklang, im Erlauben, in der Neugierde.
Bildung als Raum für Integration
Der Bildungsraum kann ein Ort sein, an dem diese Spuren wachsen – oder verloren gehen. Je mehr Bildung sich an Output orientiert, je mehr sie das Handeln über das Verstehen stellt, desto mehr verkommt sie zur Bühne ohne Tiefe. Schüler werden zu Akteuren, die Ergebnisse liefern. Doch Lernen ist kein Theater. Lernen ist ein innerer Prozess. Und dieser Prozess braucht Zeit, Bezug, Rückmeldung. Erst dann entsteht Selbstwirksamkeit. Und erst dann entsteht das, was man als „Bildung“ im ursprünglichen Sinn bezeichnen kann: die Bildung eines inneren Bezuges zur Welt.
Wer dem Lernen die persönlichen Komponente entzieht, der diktiert.
Richtung als Beziehung
Was aber ist Richtung, wenn sie kein Plan ist? Richtung ist Beziehung. Beziehung zu sich selbst, zu anderen, zur Welt. In Cross Art & Body Work ist das unmittelbar spürbar. Wenn der Körper in einer Bewegung ist, die nicht nur nach außen zeigt, sondern nach innen wirkt, entsteht ein Raum: ein Erfahrungsraum, ein Ausdrucksraum, ein Verbindungsraum.
Auch in kreativen Prozessen zeigt sich das: Schreiben kann Flucht sein – oder Begegnung. Tanzen kann Ablenkung sein – oder Rückbindung. Entscheidend ist, ob ich im Tun anwesend bin. Ob ich etwas erfahre – oder nur etwas zeige. Oft entsteht in der Richtung erst die tragende Dynamik. Ein Tanz von Dir unf deinem Werk – unrecyclebar, unkopierbar – nur hier & jetzt!
Und das gilt ebenso für pädagogische Prozesse: Ein Kind, das spielt, lernt nicht automatisch. Aber ein Kind, das spielt und sich dabei erlebt, das spürt, wie es Einfluss nimmt, wie es etwas verändert – dieses Kind lernt sich selbst. Und genau das ist Bildung: die Möglichkeit, sich selbst als Teil eines größeren Zusammenhangs zu erfahren.
Selbsterleben als Fundament
Selbstwirksamkeit ist kein abstrakter Begriff. Sie ist gelebte Erfahrung. Und sie ist, meiner Überzeugung nach, der Boden für Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Wer erlebt hat, dass das eigene Tun eine Wirkung hat – im Körper, im Kontakt, in der Welt –, der entwickelt Vertrauen. In sich. In andere. In Prozesse.
Doch ohne Richtung, ohne Integration, ohne Anbindung wird jede Bewegung zur Wiederholung. Man macht, aber man verändert nichts. Man erreicht Ziele, aber verliert den Sinn. Man fühlt sich leistungsfähig, aber innerlich leer.
Deshalb ist Selbsterleben so zentral. Es ist der Moment, in dem ich mich spüre. In dem ich merke: Ich bin hier. Ich bin beteiligt. Ich bin gemeint. Ohne dieses Gefühl wird jede Form von Bildung, Kunst oder Therapie zur Struktur ohne Seele.
Resonanzräume schaffen
Was also tun? Es braucht Räume, in denen Bewegung nicht mit Funktion verwechselt wird. In denen Ausdruck nicht bewertet, sondern begleitet wird. In denen Richtung nicht vorgegeben, sondern entdeckt wird. Diese Räume sind rar – und sie sind kostbar.
Cross Art & Body Work kann ein solcher Raum sein. Wenn Körper, Kunst und Kontakt zusammenspielen, entsteht etwas Drittes: Resonanz. Und Resonanz ist die Grundbedingung für alles, was wir „lernen“, „heilen“ oder „verstehen“ nennen.
Auch Bildung kann Resonanzraum sein. Wenn Schüler nicht nur Ergebnisse liefern, sondern Fragen stellen dürfen. Wenn sie sich in ihren Themen wiederfinden. Wenn sie erleben dürfen, dass ihr Inneres zählt – nicht nur ihr Output. Dann wird Lernen lebendig.
Commitment statt Durchlaufposten
Doch diese Dynamik zeigt sich nicht nur in Bildung, Arbeit oder kreativen Prozessen. Sie prägt zunehmend auch unsere Beziehungen. Besonders spürbar wird das beim Dating – wo viele Menschen unermüdlich Möglichkeiten durchspielen, Erfahrungen sammeln, sich ausprobieren. Doch in all der Bewegung fehlt oft etwas Zentrales: Commitment. Die Richtung.
Der Wunsch, alles möglich zu machen, niemanden auszuschließen, sich alle Optionen offen zu halten, führt dazu, dass keine Richtung gewählt wird. Statt einer Beziehung entsteht ein fortwährender Zustand des Möglichkeitsmanagements. Dabei wird das eigentliche Ziel – Verbindung, Vertrauen, Tiefe – ständig untergraben. Auch hier wirkt sich das aus wie in der Bildung: Viel wurde getan, aber wenig wurde aufgebaut. Beziehungen werden begonnen wie Projekte, nicht gelebt wie Geschichten.
Die zugrunde liegende Idee scheint zu sein, dass Richtung uns festlegt, einschränkt, reduziert. Dabei ist das Gegenteil wahr: Erst durch Richtung entsteht Tiefe. Erst wenn ich mich einlasse, kann etwas wachsen. Wer nur spielt, aber nie bleibt, lernt nichts über das Spiel.
Richtung ist nicht Enge, sondern Gestaltung
Wir haben vergessen, dass das Leben begrenzt ist – nicht nur in der Zeit, sondern auch in der Aufmerksamkeit. Wer alles will, wird nirgends ganz. Und wer nie entscheidet, verliert sich in der Vielfalt. Es ist unsere Natur, die Welt mit den Sinnen zu begreifen. Mit Haut, mit Atem, mit Gegenwart. Nicht über Checklisten. Nicht in Effizienzprogrammen.
Dabei wissen wir tief in uns: Wir haben nur ein Leben. Die Richtung ist veränderbar, ja. Sie darf sich anpassen, sie darf sich korrigieren. Aber sie muss auch gewählt werden. Sonst wird aus der Offenheit eine Ausweichbewegung. Aus der Möglichkeit eine Vermeidung. Und aus der Suche nach dem Richtigen eine Flucht vor dem Eigentlichen.
Zwei Qualitäten: Dynamic and Direction
Die Wahrheit ist: Weder Dynamik, noch Richtung machen alleine Sinn. Und so ist es ein Spiel, ein Probieren, ein Suchen.
Ein Spiel zwischen Aktivität und Verbindung, zwischen Tun und Verstehen, zwischen Leistung und Spürsinn.
Denn das, was bleibt, ist nicht die Geschwindigkeit, sondern die Spur.
Nicht das Getane, sondern das Erlebte.
Nicht das Erreichte, sondern das Gefühl, wirksamer Teil gewesen zu sein – wirklich, ganz, lebendig.